Das Kreuz Jesu und das Leid der Welt.PHOTO 2022 04 08 18 43 45

Schon sieben Wochen dauert der Krieg Russlands in der Ukraine und erreicht mit den grauenvollen Bildern der Zerstörung in Butscha und vielen anderen Orten einen Tiefpunkt der Humanität, den Europa mit den Erinnerungen an den 1. und 2. Weltkrieg hoffte überwunden zu haben.

Die Bilder des Leids der Menschen im Krieg in der Ukraine haben uns fast das Bewusstsein geraubt, dass wir nach dem „Kirchenkalender“ in der Passionszeit Jesu leben. Palmsonntag, am 10.4.22, beginnen mit dem Einzug Jesu in Jerusalem die letzten Stationen im Leben Jesu: Abendmahl und Verrat, Gebet in Gethsemane und Verleugnung, Gefangennahme und Flucht, Anklage und Folter, bis hin zum Karfreitag, Jesu Tod am Kreuz auf Golgatha und stille Grablegung. Doch mit dem Beginn der neuen Woche, am Ostersonntag, dem Auferstehungstag, beginnt für die Welt eine ganz neue Epoche.                                               

Wann aber wird die Passion der Menschen in der Ukraine zu Ende sein und vor allem wie? Die Bilder der Verwüstungen ihrer Städte und ihrer Toten, die wir täglich in den Nachrichten sehen und hören müssen, sind uns unerträglich geworden. Sie schreien zum Himmel.

Da kam mir unser Besuch 2018 in der Gertrudenkapelle in Güstrow in den Sinn. Dort hat der Künstler Ernst Barlach in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gearbeitet und mit seinen Skulpturen das Kreuz Jesu mit dem Leid im 1. Weltkrieg verbunden: Rechts sehen wir das Soldatendenkmal mit den nicht heldenhaft strahlenden Soldaten. In der Mitte erkennen wir die um ihren im Krieg gefallenen Sohn trauernde Mutter, dargestellt wie sonst nur die Pieta Marias. Aber ihr Sohn trägt nicht die Dornenkrone, sondern einen Stahlhelm. Links überragt das Kreuz Jesu die Szene mit der trauernden Mutter. Im Vordergrund links der verzweifelt Ringende, vielleicht ist er im Gebet vertieft. Dazwischen sind die Lesenden zu sehen, die miteinander die Bibel teilen. So verarbeitet der Künstler die erlittene Gewalt des 1. Weltkrieges: Das Leiden Jesu und das Leid der Welt. Barlach erinnert daran, dass da doch einer einst am Kreuz zur Erlösung der Welt gestorben ist. Er ahnt noch nicht, dass das heraufziehende Nazitum, das seine Kunst als „entartet“ verbannen wird, durch ihren neuen Führer bald nicht nur Europa, sondern fast die ganze Welt, in die Vernichtung durch den 2. Weltkrieg führen wird.

Der Krieg in der Ukraine mit seinen schrecklichen Bildern von Trümmern und Toten führt zu allgemeinem Entsetzen. Wir ahnen, dass dieser Krieg weltweite Gefahren heraufbeschwört. Aber wir wissen nicht, wie weit er sich in Europa noch ausbreiten wird und welche Waffen dann eingesetzt werden. Dieser Krieg, den der russische Präsident Putin entfesselt hat, ist der Bruch des internationalen Völkerrechts, wie er 1945 nach dem 2. Weltkrieg in der UN-Charta mit der Ächtung der Gewalt und des Krieges vereinbart und in vielen internationalen Verträgen eigentlich alle bindend zugesichert wurde. Weltfriede und Menschenrechte, dieser hoffnungsvolle Gründungsimpuls der Vereinten Nationen, wird jetzt von Putin infrage gestellt. Unsere menschliche Vernunft hat nicht mehr die Kraft, den Weltfrieden zu sichern. Unserer Vernunft fehlt ein Bewusstsein dafür, wie sehr diese Gräueltaten des Krieges auf Erden zum Himmel schreien.

Die Bibelleser erinnern sich, wie die Bibel am Anfang, als die Menschen den „Garten Eden“ verlassen mussten (1. Mose 4, 3-16), von einer Bluttat erzählt, die wegen ihrer Ungeheuerlichkeit von der Erde aufschreit zu Gott. Kain erschlägt seinen Bruder Abel und Gott antwortet darauf. Gott klagt Kain an: „Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.“ Diese Geschichte, so scheint es mir, ist heute weltweit in Vergessenheit geraten, sonst könnten doch die Staatsmänner keinen Krieg mehr befehlen und ihren Soldaten solche Brutalitäten an der Menschheit erlauben. Schlimm ist es, wenn in diesen Kriegstagen auch die Kirchen vergessen, diese Anklage Gottes wegen der Brutalität öffentlich zum Predigttext zu machen: „Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Wo ist dein Bruder? Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.“ Die Bibelleser wissen also, nicht nur auf der Erde werden diese Brutalitäten bekannt, der Schrei des vergossenen Blutes dringt auch bis zu Gott. Und Gott wird auch heute darauf antworten, so wie er auf Kain’s Tat geantwortet hat.

In der Passionsgeschichte Jesu werden wir in dieser Woche auch den Schrei Jesu hören, mit dem er am Kreuz gestorben ist (Matthäus 27,45-56): „Eli, eli, lema sabachthani? Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Dieser Schrei Jesu am Kreuz zu Gott gibt auch Abel, dem ersten von den Menschen Getöteten, eine hörbare Stimme, die bis zu Gott dringt. Der Schrei Jesu am Kreuz gibt auch heute den vielen brutal Getöteten im Krieg in der Ukraine eine deutliche Stimme, die Gott klagend herbeiruft: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.“ Mit seinem Schrei der Ohnmacht teilt Jesus den Schmerz und die Hoffnungslosigkeit der im Krieg Putins jetzt Sterbenden und ihrer Angehörigen. In den Schrecken ihres Todes ist der für unsGekreuzigte bei ihnen. Hier verbindet sich das Kreuz Jesu und das Leid der Welt. Wenn wir Karfreitag in der Liturgie der Gottesdienste diesen Schrei Jesu am Kreuz hören, dann ist uns allen das heutige Schreien nach Gott, der den Menschen verlassen hat, gegenwärtig.

Nach Karfreitag warten wir, wie damals die Jünger und wie die Verzweifelten heute, auf die kommende Antwort Gottes auf alles, was in dieser Welt zum Himmel schreit. Wartend freuen wir uns auf den Auferstehungstag. Wir freuen uns auf die kommende Erlösung von dem Bösen.

                                                                                                                                                                                                 Edgar Lüllau  8.4.2022  Bildquelle E. Lüllau