„Was ist das für ein Mann,
dass ihm Wind und Meer gehorsam sind?“


Matthäus 8, 18-27 / Eine Bibelarbeit in Zeiten der Pandemie.

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In Zeiten kollektiver Gefahr, die jeden treffen kann, kommt alles auf eine kollektive Anstrengung an, um gemeinsam zu überleben. Wir sprechen dann davon, dass „wir alle in einem Boot sitzen“. Dieses Bild aus der Seefahrt kennen schon die Evangelien von Jesus: Die Sturmstillung Jesu in Matthäus 8,18-27; Markus 4,35-41; Lukas 8,22-25. Schon im frühen Mittelalter wurde diese Stillung des Sturms auf dem See in Evangelienbüchern bildlich dargestellt als Symbol für die Bedrohung der Kirche im Laufe ihrer Geschichte. Siehe die bekannteste Darstellung der Sturmstillung im Hitda-Codex (ungefähr um 1000 n. Chr.) Link:
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/52/Hitda-codex.jpg. Jesus, auf einem übergroßen Kissen schlafend, wird von den im Boot verzweifelt mit dem Sturm kämpfenden 
Jüngern zum Handeln aufgeweckt.


Aber heute, in Zeiten einer alle Kontinente ergreifenden Epidemie (Pandemie), 

deuten wir dieses Bild global: Wir alle sitzen in diesem einen Boot. Medien zeigen uns auf einer Weltkarte, wie sich das Virus innerhalb weniger Monate über die ganze Erde verbreitet hat. Durch die Kontaktsperre ist nicht nur das öffentliche Leben lahm gelegt worden, sondern jeder ist auf sich selbst zurückgeworfen. Zu der Sorge vor der Ansteckung kommt für viele die Angst um den Arbeitplatz hinzu. Wenn so viele gewohnte Sicherheiten plötzlich wegbrechen, ist die Gefahr von Depression und Panik groß. 

Wie können wir in dieser unruhigen Zeit die alte Erzählung von der Sturmstillung Jesu für uns heute so nacherzählen, dass wir den Glauben und die Hoffnung stärken? Aus den Evangelien, die diese Geschichte erzählen, wähle ich das Matthäusevangelium aus, weil hier die Sturmstillung verbunden ist mit dem für Matthäus so wichtigen Thema der Nachfolge Jesu: Matthäus 8,18-27: 

18 Als aber Jesus die Menge um sich sah, befahl er, hinüber ans andre Ufer zu fahren.
19 Und es trat ein Schriftgelehrter herzu und sprach zu ihm: Meister, ich will dir folgen, wohin du gehst.
20 Jesus sagt zu ihm: Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.
21 Ein anderer aber, einer seiner Jünger, sprach zu ihm: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe.
22 Aber Jesus spricht zu ihm: Folge mir nach und lass die Toten ihre Toten begraben!
23 Und er stieg in das Boot und seine Jünger folgten ihm.
24 Und siehe, da war ein großes Beben im Meer, sodass das Boot von den Wellen bedeckt wurde. Er aber schlief.
25 Und sie traten zu ihm, weckten ihn auf und sprachen: Herr, hilf, wir verderben!
26 Da sagt er zu ihnen: Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?, und stand auf und bedrohte den Wind und das Meer; und es ward eine große Stille.
27 Die Menschen aber verwunderten sich und sprachen: Was ist das für ein Mann, dass ihm Wind und Meer gehorsam sind? 

Diese drei Verben treiben die Dynamik der Erzählung voran: befehlen, bedrohen, gehorchen. Sie fassen die beiden Szenen, Nachfolge und Sturmstillung, zu einer Einheit zusammen. 

Das auffällige „Befehlen“, in das Boot zu steigen, ist in der Situation zunächst unverständlich, denn Jesus soll ja nicht als Kapitän eines Schiffes dargestellt werden. Er wird nachher beim Sturm im Boot schlafen, etwas Untypisches für einen Kapitän. Aber dieses Verb „befehlen“ erhält später seinen tieferen Sinn, als Jesus in dem von Wellen bedrohten 

Boot aufsteht und die Elemente der Natur, Wind und Meer, so bedroht, als seien sie selbständige Subjekte, die man ansprechen kann. Und am Schluss bekunden die verwunderten Menschen fragend, wer dieser Mann ist, der den Elementen der Natur, die die Menschen zu fürchten haben und denen sie sich unterordnen müssen, so bedrohend befehlen kann, dass sie ihm gehorchen müssen. 

Aber schauen wir uns den Gang der Erzählung an. Wie bei der Bergpredigt sind hier die Menschen und die Jünger um Jesus. Er befiehlt, ins Boot zu steigen. Wem sagt er das? Allen, die ihn hören. Einer hat das richtig verstanden. Aus der Menge sagt ein Schriftgelehrter: Meister [Lehrer], ich will dir folgen, wohin du gehst. Er will also auch ins Boot steigen. Ihn macht Jesus auf die Risiken der Nachfolge aufmerksam. Mit Jesus wird er immer unterwegs sein, nirgendwo endgültige Heimat finden. Aus dem Kreis seiner Jünger aber will einer schnell noch aussteigen, bevor es richtig los geht. Er will vorher noch seinen Vater beerdigen. Ihn macht Jesus auf den unbedingten Vorrang, den sein Wort vor allen anderen Verpflichtungen in der Welt hat, aufmerksam. 

Sehr schön schildert Matthäus hier die Situation der Gemeinde Jesu, die wir selbst zu genau kennen: der eine will einsteigen, übersieht aber noch nicht die Risiken; ein anderer will wieder aussteigen, übersieht aber die ihn in die Pflicht nehmende Verbindlichkeit der Worte Gottes. Wenn Jesus Menschen in seine Nachfolge ruft, dann klingt sein Ruf wie ein Befehl, der auf die „Risiken und Nebenwirkungen“ so aufmerksam macht, dass jeder sich verantwortlich entscheiden kann, was er will und was er nicht will. 

Inzwischen sind sie alle mit Jesus in das Boot gestiegen. Wenn alles wie immer ruhig verläuft, haben die Jünger kein Problem damit, wenn Jesus schläft. Sie, die Fischer, sind ja im Boot die Fachleute und nicht Jesus der Lehrer. Doch mitten auf dem See geraten sie in schwere Not. Ein Seebeben (griechisch: Seismos), verbunden mit Sturm, deckt das Boot mit Wellen ein. Aber mitten im Beben und Sturm und den Anstrengungen der Jünger, das Boot zu steuern, schläft Jesus immer noch. Markus fügt hier ein Detail hinzu: Jesus schläft auf einem Kissen. Pointierter kann man den Gegensatz in dieser Szene nicht darstellen: höchste Gefahr und tiefer Schlaf! Die Elemente der Natur, die der Mensch zwar nicht beherrscht, auf die er nur reagieren kann, bedrohen das Leben. Alle sitzen in einem Boot. Auf die kollektive Gefahr gibt es nur eine kollektive Antwort: Alle sind mitverantwortlich, auf diese Entfesselung der Kräfte der Natur gemeinsam zu reagieren, um gemeinsam zu überleben. 

Wir müssen heute angesichts der Bedrohung durch das neuartige Virus jeden von uns „aufwecken“, seinen Beitrag zu leisten. Um die von Mensch zu Mensch weiter getragene Infizierung zu stoppen, die hochschnellende Kurve der Neuerkrankungen zu senken, müssen wir alle die sozialen Kontakte auf ein Minimum reduzieren, um unser Krankheitssystem nicht zu überfordern. 

So traten auch die Jünger an den schlafenden Jesus heran, um ihn wachzurütteln. Keiner kann sich aus der Verantwortung stehlen, wenn das Boot unterzugehen droht. Jetzt reden sie Jesus mit einem anderen Titel an: „Herr hilf, wir verderben!“ Dieses „Herr“, ist nicht die uns geläufige Höflichkeitsanrede. Sie sprechen Jesus als den Herrn an, der die Macht hat, rettende Befehle zu geben. Wegen ihrer Angst und ihrer Furcht, nennt Jesus sie zwar „Kleingläubige“, aber es ist auch heute immer noch besser mit großer Furcht und kleinem Glauben zu Jesus zu beten, als das Beten ganz und gar verlernt zu haben. 

Die geschilderte Szene der Sturmstillung scheint aus einer ganz anderen Welt zu sein, als die Welt, in der die Jünger mit ihrer Erfahrung als Fischer verzweifelt versuchen das Boot vor dem Kentern zu bewahren: Jesus steht auf und spricht sein drohendes Machtwort gegen den Sturm. Dann ist Stille. 

Leuchtturm 1758197 1280Die Menschen damals haben das auch gespürt. Verwundert stellen sie die Frage „Was ist das für ein Mensch, dem Wind und Wellen gehorchen? Damit haben sie diese Erfahrung auf den Punkt gebracht: Das kann kein Mensch wie wir. Wir können nur, wie die erfahrenen Fischer, unsere ganze Ruderkunst aufbieten, um dem Sturm zu trotzen. Aber mit unseren Worten kommen wir Menschen dem Sturm nicht bei. Schon als die Menge mit Jesus von dem Berg der Bergpredigt heruntergeht, war sie über die Worte der Ethik Jesu, die er ihnen zumutete, entsetzt und sagte zu sich, Jesus lehrt mit einer Vollmacht, die keiner unserer Schriftgelehrten hat (Mt. 7,29). Aber was jetzt auf dem See geschah, übertraf noch einmal alles. Hier bricht die Erzählung ab. Wer eine Antwort haben will, muss das Evangelium bis zum Ende lesen. Dort findet er die Worte Jesu: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“ Auf dem See leuchtete diese Macht Jesu, Menschen zu retten, für einen Augenblick schon auf. Und vielleicht meinte Jesus genau dies, als er am Anfang seines Auftreten ausrief: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“ Und wenn wir heute, wie Jesus uns gelehrt hat, im „Vater Unser“ beten „Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.“ so beten wir um nichts anderes, als dass er uns seine die Menschen rettende Macht erweist. 

Doch in unserer säkularen Welt, in der der Glaube und der Verstand keine Partner mehr sind, haben wir oft nur einen sehr kleinen Glauben. Denn das kleine, fast unsichtbare Virus entfaltet auf der Erde eine solche Macht, dass weltweit unsere Gesundheit bedroht und das globale Wirtschaftssystem lahmgelegt wird. Und es ist unsicher, wie wir Menschen auf den Zusammenbruch der bisherigen sozialen und wirtschaftlichen Gewissheiten reagieren werden. Unsere freiheitliche Demokratie wird einem Stresstest unterzogen. Uns persönlich wird ein hohes Maß an Besonnenheit zugemutet, um jetzt auf dem begrenzten kleinen Raum unserer Wohnung und mit dem Verbot der sozialen Kontakte, auch psychisch stabil zu bleiben. Dafür aktualisieren wir diese dem Verstand so widerspenstig erscheinende biblische Erzählung von Jesus. Denn dieser komplexen Herausforderung allein mit Vertrauen in unser vernünftiges, wissenschaftliches System der Problemlösung zu begegnen, dazu gibt es heute keine ausreichend guten Gründe mehr. 

In der gottesdienstlichen Praxis der Lektüre der Bibel und des Gebetes alleine oder zu zweit oder im Kreis der Familie, beansprucht die Gemeinde der Gläubigen, eine Verbindung herzustellen mit der in unsere Welt hereinbrechenden rettenden Macht Gottes. 

Es wird Zeit, dass wir Jesus aufwecken mit unserem kleingläubigen Gebet wie die Jünger: „Herr, hilf, wir verderben!“ 

Ich empfehle aus dem Gebetbuch der Bibel, den Psalmen, das Gotteslob für erfahrene Hilfe in der Not zu lesen und mitzubeten. Der Psalm 107, beginnend mit Danket dem Herr; denn er ist freundlich und seine Güte währet ewiglich, erzählt viele Zeugnisse durchlittener Gefahr und erfahrener Güte Gottes und mündet ein in den immer wiederkehren Aufruf: Die sollen danken dem Herrn für seine Güte: 

23 Die mit Schiffen auf dem Meere fuhren und trieben ihren Handel auf großen Wassern,
24 die des Herrn Werke erfahren haben und seine Wunder im Meer,
25 wenn er sprach und einen Sturmwind erregte, der die Wellen erhob,
26 und sie gen Himmel fuhren und in den Abgrund sanken, dass ihre Seele vor Angst verzagte, 27 dass sie taumelten und wankten wie ein Trunkener und wussten keinen Rat mehr, 

28 die dann zum Herrn schrien in ihrer Not und er führte sie aus ihren Ängsten
29 und stillte das Ungewitter, dass die Wellen sich legten
30 und sie froh wurden, dass es still geworden war und er sie zum ersehnten Hafen brachte: 31 Die sollen dem Herrn danken für seine Güte / und für seine Wunder, 

die er an den Menschenkindern tut,
32 und ihn in der Gemeinde preisen und bei den Alten rühmen. 

Edgar Lüllau, 25.3.2020