Ein Zwischenruf

Es ist noch nicht so lange her, da hat Greta Thunberg mit ihrer Demo an jedem Freitagmorgen die Jugend der Welt inspiriert, so wie sie an jedem Freitag für die von Menschen bedrohte Schöpfung auf die Straße zu gehen statt zum Unterricht. Der Klimawandel beginnt schon heute und kann nur heute durch eine umfassende Konversion unseres Lebensstils, wenn nicht aufgehalten, so doch vielleicht gemäßigt werden. Die Zukunft der erst noch kommenden Generationen ist in Gefahr. Sind aber die „Kipppunkte“, an denen die Erwärmung des Planeten nicht mehr zu stoppen ist, bald erreicht, ist unser aller gemeinsames Interesse, nämlich die Zukunft unserer Zivilisation, bedroht.

Schuleschwänzen für das Klima

„Aber der Entschluss zum solidarischen Handeln im Anblick von Gefahren, die nur durch kollektive Anstrengungen gebannt werden können, ist nicht nur eine Frage der Einsicht.“ So resümiert wohl zu Recht der Philosoph Jürgen Habermas über die Schwäche unserer Vernunftmoral, der die motivierende Kraft religiöser Bilder (vom Reich Gottes auf Erden) - warum auch immer - abhandengekommen ist. Worauf aber ist zu setzen, so fragt er, wenn uns heute ein weltweites Bewusstsein, von dem, was fehlt, von dem, was zum Himmel schreit, durch eigene Kraft nicht mehr gelingt zu wecken und wachzuhalten?

Schon 1979 schrieb Hans Jonas in „Das Prinzip Verantwortung“, dass die bisherige Ethik als Anweisung, wie der einzelne Mensch zu handeln hat, angesichts der Veränderung der modernen Technik und ihrer Eingriffe in die Natur, um sie den Menschen nutzbar zu machen, auch eine Änderung der Ethik erforderlich macht. Aber, so reflektiert er besorgt, es gibt noch keine gemeinsame Ethik der Verantwortung für eine entfernte Zukunft. Denn wenn die aus der Verantwortung kommende Rechenschaftspflicht eingefordert werden wird, weil diese Zukunft Gegenwart geworden ist, sind wir, die Schuldigen, nicht mehr da.

Gegenwart aber ist seit über einem Jahr die uns drohende Schöpfung (Natur) in der Gestalt des den Augen unsichtbar kleinem Virus Covid-19. Die bedrohte Schöpfung bedroht nun ihrerseits den Menschen lebensgefährlich in seinem ureigensten Terrain, der ganz persönlichen Nähe in der Gemeinschaft mit anderen. Covid-Kranke müssen in Quarantäne, einer Art Isolierungshaft der Natur, um ihre Nächsten nicht zu gefährden. Covid-Kranke sterben zu oft isoliert und ohne Abschied. Ein verordneter Lockdown als Schutz vor der unsere Gesundheit bedrohenden Natur blockiert die Gesellschaft, zerreißt das soziale und wirtschaftliche Netz, von dem wir leben, wirft den Menschen auf sich selbst zurück. Die Corona-Pandemie lähmt die ganze Welt. Das bisherige Gefühl der Weltbeherrschung weicht immer mehr der Erfahrung der Ohnmacht und kann Depressionen und Aggressionen wachrufen. Nur kollektive Anstrengungen könnten die Gefahren bannen, aber es fehlt uns die vernünftige Einsicht in ein solidarisches Handeln. Lange kann das niemand aushalten.

Wir Menschen leben in einer Wechselseitigkeit und Abhängigkeit mit der ganzen Schöpfung. Wir stehen ihr nicht als Herrscher gegenüber, sondern leben in ihr immer nur als mitbetroffene Akteure. Könnten wir heute noch versucht sein, Konsequenzen aus dem Klimawandel auf später zu verdrängen, so ist die Natur mit Covid-19 ohne lange Ankündigung unser aller Gegenwart geworden, und wir bemerken die Bedrohung erst, wenn es zu spät ist. Wird über die heutigen Konsequenzen des Klimawandels heftig gestritten, so jetzt erst recht über notwendige Schutzmaßnahmen (Lockdown) gegen die weltweite Pandemie. Aus den früheren Pandemien hat die Wissenschaft viel gelernt zur Vermeidung der Ansteckung und der Bekämpfung (Impfschutz) der Viren. Die Wissenschaft lernt mit dem Virus, aber sie beherrscht es nicht. Es ist ihr immer mit einer neuen Mutation einen Schritt voraus.

Wie steht es mit unserem Glauben in der Pandemie? War die Schließung der Kirchen für Gottesdienste nur ein Zeichen für unseren Kleinglauben oder eine notwendige solidarische Schutzmaßnahme? Hier die Frage der Religionsfreiheit zu stellen, ist unangemessen. Die Kirche sollte sich für die Freiheit des Glaubens von Asylantragstellern aus Glaubensgründen engagieren. 

Seit über einem Jahr (März 2020) sind die Glaubenden statt auf Präsenzgottesdienste auf das Beten im eigenen „Kämmerlein“ verwiesen (Mt. 6,6). An diesem Ort verheißt uns Jesus die Gegenwart unseres Vaters im Himmel. Dort ist ER bei uns, dort hört ER uns, dort vergilt ER unsere Glaubensgebete. Nutzen wir in der Zeit der Pandemie diesen Ort der Gegenwart Gottes, um Trost zu erhalten, um Angst zu bestehen, um Hoffnung zu verbreiten und um Widerstand zu leisten gegen alle aktuellen Versuchungen von Verschwörungstheorien. Warum sollte unser Glaube, der sich im „Kämmerlein“ täglich stärken lässt, nicht auch die Zeiten der Pandemie bestehen können?

Aber wo ist Gott in der Pandemie? Wenn Gottes gute Schöpfung sich drohend gegen uns, die Mitgeschöpfe, stellt, welches Bild von Gott und seiner Macht kommt da in uns ins Wanken? Ist Gott der Urheber dieses Virus, um die Menschheit „schütteln zu lassen, wie man mit einem Sieb schüttelt“, Amos 9,9? Oder ist es eher so wie Jesus zu Simon sagte: „ ...siehe der Satan hat begehrt, euch zu sieben wie den Weizen“ (Lk. 22, 31)? Könnten wir noch so handeln wie David, der wegen seiner Verfehlung wählen sollte zwischen Krieg oder Pest als Strafe? David wählte die Pest und bekannte: „Es ist mir sehr angst, aber lass uns in die Hand des HERRN fallen, denn seine Barmherzigkeit ist groß; ich will nicht in der Menschen Hand fallen.“ (2. Samuel 24,14)

Natürlich ist das Virus eine Herausforderung für die Wissenschaft, die die Gesetzmäßigkeiten des Virus studiert, um den Handlungsspielraum der Menschen zu erkennen; für den demokratischen Staat, der mit den Bürgern um einen demokratischen Konsens für die angemessenen Schutzmaßnahem ringen muss; wie auch für die Frömmigkeit, die bei Gott um Barmherzigkeit bittet, bei den Menschen für Solidarität wirbt und gleichzeitig Trost und Hoffnung verbreitet. Aber alle drei, Wissenschaft, Staat und Glaube, kommen an die Grenzen ihres Könnens. Wenn materielle und vor allem menschliche Existenzen auf dem Spiel stehen, Trost und Hoffnung rar werden, dann zerbricht die Solidarität einer kollektiven Anstrengung, die Gefahren gemeinsam zu bannen. Erst recht kommt der globale Aspekt der einen Menschheit aus dem Blick. Nationale und persönliche Egoismen beherrschen uns.

                               Glauben in Zeiten globaler Krisen hat sich mitten in unserer Ratlosigkeit, Trauer und Verzweiflung zu bewähren. Wir sind trostbedürftig und hassgefährdet, so analysiert Michael Welker unsere Zeit. Populistische Stimmungen aktivieren zu Zeiten der Ohnmacht gefährliche, alte und neue Feindbilder, die die von uns geforderte Solidarität als Diktatur darstellen wollen. Sie verbreiten dort Hass und Hetze, wo wir eigentlich Trost brauchen, um unser erschüttertes Gottvertrauen, Weltvertrauen und Selbstvertrauen zu stärken. Unsere Frömmigkeit ist gefordert, Menschen heute Trost zu spenden, d.h. ihnen einen Raum der Verlässlichkeit, Hilfe, Halt, Rettung und Schutz anzubieten. Wir brauchen diese Stärke des Gottvertrauens und Weltvertrauens für die Zeit der Pandemie. Starkes Vertrauen brauchen wir auch in der sich heute schon ankündigenden Krise eines Klimawandels, die eine noch viel breitere globale Anstrengung der Solidarität fordern wird. Denn die „Kipppunkte“ globaler Erwärmung zu überschreiten, gefährdet Heute uns - und Morgen alles.


Die prophetisch-apokalyptische Erzählung in Daniel 5 berichtet eindrucksvoll, wie in Babylon mitten im gesellschaftlichen Fest des König Belsazar ein Finger wie von Menschenhand an die weiße Wand des Festsaales schrieb: Mene mene tekel u-parsin, und den König und die feiernde Gesellschaft ratlos erbleichen ließ. Der entscheidende „Kipppunkt“, der dieses „göttliche Menetekel“ über die babylonische Gesellschaft heraufbeschwor, war, als die heiligen Tempelgefäße Israels missbraucht wurden als Trinkgefäße für das Festgelage Babylons. Gezählt und beendet, gewogen und zu leicht befunden, zerteilt und anderen gegeben, so nüchtern deutete Daniel dem König diese göttliche Schrift an der Wand. Wurde Daniel für seine Deutung zuerst mit allen gesellschaftlichen Ehren belohnt, so landete er später in Kapitel 6 mit seinen Glaubensfreunden in der Löwengrube. So ergeht es Propheten. 

Die Erinnerung an das biblische „Menetekel“ warnt uns vor heillosen Heilsversprechen, bewahrt uns aber auch davor, apokalyptische Ängste zu schüren. Biblische Erzählungen stärken uns, wie Daniel in aller Nüchternheit die Zeichen der Zeit zu deuten, um uns für verantwortliches Tun zu ermutigen. Und in bedrängter Lage lernen wir beten wie David: „Lieber in Gottes Hand fallen, als in die Hände von Menschen, denn bei IHM ist die Barmherzigkeit groß.“ Daran erinnert uns auch das Wort Jesu in unserer Jahreslosung 2021: 

Jesus Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist! Lukas 6,36    

            Edgar Lüllau, 25.4.2021